Eine Frage zum Auftakt. Um das Problem zu erklären. Kennen Sie Kevin Liechti und Siro-Nicola Wyss? Nein? Die beiden bilden das Goalie-Duo bei Hockey Huttwil, einem Spitzenteam in der MyHockey League. Der dritthöchsten Liga der Schweiz. Hätten Kevin Liechti und Siro-Nicola Wyss einen österreichischen Pass, dann wären sie jetzt hier in Prag. Im WM-Aufgebot des österreichischen Nationaltrainers Roger Bader. Und einer der beiden würde heute (20.20 Uhr, live auf SRF) gegen die Schweiz antreten.
Eine Episode mag das Problem illustrieren. Österreich hat soeben recht kläglich 1:5 gegen Dänemark verloren. Der österreichische Chronist Andreas Robanser ist um positive Stimmung und Trost bemüht. Auf die boshafte und respektlose Frage eines nicht-österreichischen Chronisten an Roger Bader, ob sich sein Assistent Arno Del Curto ob der miserablen Torhüterleistung gefühlt habe wie einst im Final von 1998 gegen Zug beim HCD mit Torhüter Nando Wieser, kontert Robanser geistesgegenwärtig:
Roger Bader, auch in der Niederlage mit feinem Sinn für Ironie und Humor, entgegnet: «Du kannst es auch andersherum formulieren: Wir müssen bei allen drei Goalies Angst haben.»
Ist es der Sinn für Ironie und Humor, der den österreichischen Nationaltrainer zu dieser Bemerkung veranlasst? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir wollen nicht grübeln. Denn: Eigentlich ist es die bittere Wahrheit.
Roger Bader hat in seinem WM-Team drei Goalies, die im Klub nicht die Nummer eins sind. Bei zehn Ausländern pro Team ist die ausländische Konkurrenz in der höchsten heimischen Liga zu gross. Fast ein wenig resignierend ergänzt der Zürcher: «Ich kann niemandem einen Vorwurf machen. Unsere drei Goalies haben ja zusammengerechnet diese Saison nicht so viele Spiele bestreiten können wie Leonardo Genoni.»
Die Verteidigung ist also das Problem der Österreicher. Aber das ist nicht die Schuld des Trainers. Er hat ein gutes Defensiv-Konzept eingeschult. Es ist ein Beton-System, das Aussenseiter überall auf der Hockey-Welt erfolgreich anwenden. Ein Stürmer stört vorne den gegnerischen Aufbau und seine vier Kollegen schliessen hinter ihm die Räume in der neutralen Zone. Gelingt es, die Scheibe zu erobern, wird blitzschnell umgeschaltet und gekontert.
Ungefähr so sind die Schweizer 2013 unter Sean Simpson bis in den WM-Final gekommen. Aber eben: Wir hatten damals Martin Gerber und Reto Berra im Tor. So gut Roger Baders Beton auch sein mag, es ist halt mit den drei Goalies, die er zur Verfügung hat (David Kickert, David Madlener, Thomas Höneckl), nur «Guisan-Beton».
Zur Erklärung: So wie Roger Bader für die österreichische Nationalmannschaft, so hatte einst auch General Henri Guisan für unsere Armee im Zweiten Weltkrieg ein heute noch berühmtes Defensiv-Konzept entwickelt: das Réduit.
Die Armee gibt das Mittelland praktisch kampflos auf (wie im Hockey beim 1-4-System die gegnerische Zone) und verschanzt sich in den Alpen. In unseren Bergen wurden eiligst 52 Befestigungswerke (Bunkeranlagen) gebaut.
Der Schweiz ist ein Tauglichkeitstest des Réduits erspart geblieben. Aber nach dem 2. Weltkrieg wollen die Militärs halt schon wissen, wie stabil die ganzen Anlagen sind. Also lassen sie im Herbst 1946 im Berner Oberland mehrere Bunkeranlagen unter scharfen Beschuss nehmen. Und müssen entsetzt ansehen, wie die vermeintlich so widerstandsfähigen Eisenbetonbauten in kürzester Zeit in Trümmern liegen.
Der Grund: Beim Bau sind zu wenig Zement und auch ungeeignete Zusatzstoffe verwendet worden. Die ausführenden Bauunternehmer hatten aber schlau und profitorientiert hochwertiges Material verrechnet. Im Vertrauen darauf, dass es schon nicht zum Ernstfall kommen wird. Der «Guisan-Beton» (benannt nach dem legendären General) war brüchig wie Sperrholz.
So ist es mit Roger Baders Defensive: Sie ist gut konzipiert wie das Réduit. Aber so wie es im «Guisan-Beton» zu wenig Zement, so hat es im österreichischen Defensiv-Beton zu wenig Talent und dieser und jener Spieler ist für internationales Niveau höchstens bedingt geeignet. Deshalb war die Verteidigung gegen Dänemark phasenweise brüchig wie Sperrholz.
Natürlich gibt es noch weitere Gründe für die insgesamt ungenügende Leistung der Österreicher: Beispielsweise der Übereifer von Marco Rossi (beim ZSC ausgebildet, jetzt bei den Minnesota Wild – diese Saison 21 Tore!). Er kassierte drei Strafen (eine führte zu einem Gegentreffer) und im Powerplay verlor er die Scheibe beim Versuch des Spielaufbaus in der eigenen Zone und verursachte so das 0:2 in Überzahl.
Roger Bader nimmt seinen NHL-Star in Schutz: «Er ist fast übermotiviert. Wir haben ihm gesagt, dass wir nicht erwarten, dass er jedes Spiel entscheiden muss.»
Wäre der Chronist respektlos, so würde er jetzt sagen: Alles andere als ein «Stängeli» (eine zweistellige Zahl von Toren) ist für die Schweizer heute Abend gegen diese Österreicher ungenügend. Wie soll diese Abwehr, die gegen die Dänen fünf Treffer zugelassen hat, dem «Beschuss» von Titanen wie Roman Josi, Nino Niederreiter, Nico Hischier oder Sven Andrighetto standhalten?
Aber Hockey ist ein unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage. Und Roger Bader sagt: «Im Spiel ohne Scheibe waren wir gut. Aber wir haben mit der Scheibe zu viele Fehler gemacht.» Es reicht, diese Fehler zu vermeiden, und schon hält der Beton.
Kommt dazu: Heute kann Österreich erstmals auf SCB-Stürmer Benjamin Baumgartner zählen. Er war krank und ist fürs erste Spiel noch geschont worden. Und es gibt auch von einem Highlight zu berichten: Vincenz Rohrer (soeben mit dem ZSC Meister geworden) bodigt mit kräftigen Hieben den vor ihm stehenden Verteidiger, nimmt Torhüter Frederik Dechow die Sicht, bückt sich im letzten Augenblick und schon fährt das Geschoss von Manuel Ganahl zum 1:2-Anschlusstreffer ins Netz. Da wären auch Leonardo Genoni, Reto Berra oder Akira Schmid machtlos gewesen.
Und noch etwas zur boshaften Frage, ob sich Arno Del Curto gefühlt habe wie damals 1998 in Davos oben im Final mit Nando Wieser im Tor. Ja, es stimmt, der HCD war wohl auch wegen des Goalies chancenlos und kassierte in einem Finalspiel elf Gegentreffer. Aber der HCD gewann mit Nando Wieser auch zwei von sechs Finalspielen. Eines gar mit 3:2 in der Verlängerung.
PS: Arno Del Curto stand natürlich gegen Dänemark an der Bande. Aber er meidet das mediale Scheinwerferlicht wie der Teufel das geweihte Wasser. Roger Bader entschuldigt die Absenz seines Freundes und Assistenten in der Mix-Zone, wo nach jedem Spiel eigentlich alle für kurze Interviews zur Verfügung stehen: «Arno zieht sich sofort nach jedem Spiel in den Teambus zurück und wartet dort …»